Einstürzende Neubauten - 11.11.2014 - Tempodrom

Einstürzende Neubauten

Einstürzende Neubauten

Ein Klagelied ist's geworden, das neue Album der Einstürzenden Neubauten. Wobei: das ist eigentlich schon nicht ganz korrekt. Denn LAMENT versteht sich gar nicht unbedingt als ordentliches neues Album - sondern eher als Studioversion einer Liveperformance. LAMENT sollte nicht einfach nur gehört, sondern vielmehr erlebt werden - als physische Performance. Mit Andrew Unruhs gigantischen Instrumenten und Geräten, die akustisch das Gefühl erzeugen, das so sehr zum Inhalt des Klagelieds passt wie kaum andere Klangerzeuger.

Dieser Inhalt nämlich ist: der 1. Weltkrieg. Die in der Tradition der Avantgarde stehenden Techniken der Einstürzenden Neubauten eignen sich wie kaum andere für die Beschäftigung mit diesem Weltereignis vor 100 Jahren: alles begann mit umfangreichen Recherchen von Ton-Aufnahmen aus den Jahren 1914-1916 von Kriegsgefangenen aus aller Welt (aufgenommen in einem der ersten großen Lager in der Nähe Berlins), aus dem Lautarchiv der Humboldt­Universität Berlin und dem Deutschen Rundfunkarchiv. Materialbesichtigungen im Militärhistorischen Museum Dresden und musikgeschichtliche Verbindungen von einem der ältesten musikalischen Formen (wie eben dem LAMENT, dem Klagelieg und der Motette eines flämischen Renaissancekomponisten, der wie viele der Tondokumente der Kriegsgefangenen, die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn behandelt).

Das Instrumentarium der Neubauten aus Stahl, Stimme, objets trouvés und innovativster Technik wurde hierfür mit einem Streicher­Ensemble erweitert, verworfen und neu definiert. LAMENT muss als Gesamtwerk verstanden, gefühlt und erlebt werden, nicht als Ansammlung von "Songs". Schließlich enstand die Musik, all ihre Klänge und Geräusche, anhand der Geschichte, die erzählt werden sollte - die Art und Weise, wie LAMENT mit Original-Tondokumenten spielt, Wahrnehmungen erzeugt, Hymnen einwebt oder auch Klassiker zitiert, macht den Horror und das Grauen des Krieges deutlich.

Nicht zuletzt Blixa Bargelds Hypothese, der 1. Weltkrieg dauere an - die "Friedenszeiten" gewissermaßen als Pausen zum Luftholen anzusehen, und andere Kriegsschauplätze auf der Welt als Stellvertreterkriege - wird von LAMENT unterstützt.

Eine ausführliche Dokumentation zu den einzelnen "Songs", ein Programmheft für die Livedarbietung am 11. November im Tempodrom gewissermaßen, notwendiges Begleitmaterial, hat die Band auf ihrer Website zusammengefasst. Dies wird kein Konzert "über" den 1. Weltkrieg, sondern eine Komposition, die sich aus dem Themenkomplex herausschält: "erst muss man Platz schaffen, damit etwas Neues entstehen kann". (Blixa Bargeld)